Ostfriesland Reloaded ist nach langer Winterpause wieder da! Und startet mit einem eher dunklen Kapitel in die Sommersaison 2023. Das aus aktuellem Anlass. Denn gerade schlägt eine unabhängige Studie, die die DAK-Gesundheit in Berlin vorgestellt… Mehr
Ein wahrhaft dunkles Kapitel der Pädagogik: Anklage in Briefen
„Als ich am 30.9. meine Tochter auf dem Mindener Bahnhof abholte, war ich erschrocken über die körperliche Verfassung des Kindes. Meine Tochter erzählte mir schon auf der Fahrt von Minden nach Eidinghausen, was so alles im Haus „Bodelschwingh“ geschehen war.“ So beginnt ein Brief, der sie auch heute noch aufwühlt. Geschrieben hat ihn ihr Vater am 10. Oktober 1969 an den Oberkreisdirektor und die zuständige Abteilung für Gesundheitswesen der Stadt Minden, die die kleine Katrin Pieper zur „Kindererholung“ im Sommer nach Langeoog geschickt hatte. Hier der Originalbrief im Wortlaut:
Was ich Ihnen jetzt mitteile ist die Aussage zweier Kinder: Man hatte sie wiederholt an den Haaren und Ohren gezogen und teilweise auch Ohrfeigen gegeben. Es soll vorgekommen sein, dass beim Essen die Kinder, die zu langsam oder zu schnell aßen, in einem Zimmer eingesperrt wurden und dort weiter essen mussten. Meine Tochter erzählte mir, dass sie des Nachts nicht nach Bedürfnis auf Toilette gehen konnten, weil dieses von den Angestellten verboten war. Nachdem sie zweimal die Hose schmutzig gemacht hatte, musste sie diese selbst auswaschen, obwohl sie nicht einmal fünf Jahre alt ist.
Zweimal, erzählte sie mir, sei sie in einem Zimmer eingesperrt worden (der Grund ist ihr nicht klar, offenbar wegen der Beschmutzung der Hose), wo die Tür verschlossen war und sie ebenfalls nicht zur Toilette konnte.
Wenn ich bedenke, dass ich dem Heim zweimal schriftlich ihre Eigenschaften mitgeteilt hatte (siehe Anlage), sie nicht einmal fünf Jahre alt, sehr hautkrank und dadurch besonders sensibel ist, ist das eine traurige Darstellung der Kinder.
Meine Tochter hatte 4 Pfund an Gewicht verloren und ist äußerst verängstigt und krank zurückgekommen (Ohrenentzündung, Magen- und Darmverstimmung etc.)
Ich muß annehmen, wenn die Kinder von der Fürsorge zur Erholung in ein Heim geschickt werden, daß sie in guten Händen sind und vor allen Dingen in Händen, die Verständnis für Kinder haben.
Ich möchte betonen, daß dies die Aussagen zweier Kinder sind, die genau übereinstimmen.
Ich bitte Sie, andere Kinder zu befragen, die zur gleichen Zeit im Heim gewesen sind, damit hier eventuell noch einiges getan werden kann.
Mit freundlichem Gruß


Das Haus Bodelschwingh antwortete im November 1969 mit einem langen Brief in dem es sämtliche Vorwürfe zurückwies. Sie bestätigen der kleinen Katrin eine auffällige Ängstlichkeit und Schüchternheit, haben sich diese aber mit der Hautkrankheit des Mädchens erklärt: „Da Katrin ein Ekzemkind ist – und Ekzemkinder meistens sensibler Natur sind.“ Das Ekzem, das wurde wohl auch in den sechs Wochen des Aufenthalts geheilt, durch „viele Seebäder“, die auch der Grund für den Gewichtsverlust seien. Weiter heißt es im Originaltext des Antwortschreibens:
Katrin hat hier wiederholt – außer nachts – auch in der Mittagszeit eingenäßt und eingekotet und dabei auch mit ihrem Kot gespielt, daß Bett beschmutzt und die Wände bemalt und Kot ins Zimmer geworfen. Auch diese Begebenheiten haben wir einer psychischen Fehlhaltung zugeschrieben. Allerdings ist es in der Tat einmal geschehen, daß Schwester Mechthild – da sie gerade alles wieder sauber hatte – das Kind für sie aus vermeindlichen pädagogischen Gründen mit der beschmutzten Hose in den Waschraum geschickt hat und sie die Hose ausspülen ließ. Das wurde von mir jedoch sofort untersagt.
Als Verteidigung gedacht, werden diese Zeilen zur ungewollten Anklage. Warum das ihnen anvertraute Mädchen diese Auffälligkeiten im Verhalten zeigt, wurde niemals hinterfragt. Ob das Kind vielleicht unter schrecklichem Heimweh litt und mit dem Kot verzweifelt seine Heimreise provozieren wollte? Oder dass die Vierjährige, schlichtweg noch viel zu klein war für eine solche Reise und so lange Zeit fern von den Eltern? Von altersgerechter Kinderpsychologie ist in diesen Zeilen nichts zu spüren. Sie sind vielmehr ein besonders gutes Beispiel für ein dunkles Kapitel der Pädagogik, das nun verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit dringt.
Nicht zuletzt durch Menschen wie Katrin Pieper, die verheiratet heute einen anderen Namen trägt, und sich aktiv auf die Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit begeben hat, um zu verstehen, ihre persönlichen Erfahrungen aufzuarbeiten und mit dem Trauma nach vielen Jahrzehnten auch endlich abschließen zu können. Der Brief ihres Vaters an die Verantwortlichen ihrer Kinderverschickung und die Antwort darauf sind ein seltenes Zeitdokument von Geschehen, die oft nur noch diffus in der Erinnerung der zu Erwachsenen Gereiften ihr Unwesen treiben und manche von ihnen bis heute nicht schlafen lassen.
Ostfriesland Reloaded dankt Katrin Pieper sehr für das Vertrauen und die Bereitschaft, diese sehr persönlichen Briefe zu veröffentlichen und aus ihnen zitieren zu dürfen.




Bildhinweise: Der Brief des Vaters von Katrin Pieper (links) und das Antwortschreiben vom „Haus Bodelschwingh“ auf Langeoog (rechts) – beide von 1969 – im Original.
***
Familienfest im Wattenmeer: Schwestern oder die Inseln der Nordsee
Sie haben definitiv Charakter, diese sandigen Schwestern: von Borkum vor den Niederlanden bis Sylt im Norden an der dänischen Grenze erstrecken sie sich wie Perlen auf der Schnur. Deff Westerkamp hat zehn von ihnen in seinem gerade erschienenen Bildband ein fotografisches Denkmal gesetzt: Seine „Panoramafotos der Nordseeinseln“ sind atemberaubend schöne Naturfotografien eines Mannes, der selbst Insulaner und auf Langeoog Zuhause, sich so intensiv wie kaum ein anderer mit den vielen kleinen Paradiesen, ihren Traumständen und weiten Dünenlandschaften auseinandergesetzt hat.
In Herkunft und Prägung verwandt und ähnlich, hat jede einzelne ihre Eigenart, sei „in ihrem Wesen so spezifisch, daß Insulaner und Gäste vor allem IHRE Insel lieben“, so Westerkamp. Zum Verlieben schön sind sie alle in diesem Buch: die eigene Lieblingsinsel, wie auch die vielen anderen, die sich im superbreiten Querformat von 15 auf 45 Zentimetern entfalten, besonders großartig weil großformatig auf den Doppelseiten des Bandes. Menschenleer zumeist, paradiesisch. So auch Norderney, wie etwa auf dem herrlichen Dünenpanorama zu sehen, das diesen Beitrag oben ziert.. Denn die vor allem als Partyinsel bekannte „Schwester“ glänzt bei Deff Westerkamp als wilde Naturschönheit.
„Familienfest im Wattenmeer: Schwestern oder die Inseln der Nordsee“ weiterlesenMeisterhaft: Expeditionen in surreale Dünenlandschaften
Wetten, so haben Sie die Inseln der Nordsee noch nie gesehen! Deff Westerkamp ist mit seinem neuen Bildband „schwestern“ ein außergewöhnliches Werk gelungen. Er zeigt die Meerlandschaften im Norden in ihrer ganzen ursprünglichen Schönheit und Wildheit. Man fühlt sich wie auf einem anderen Planeten. Dabei sind es doch die von uns allen geliebten Urlaubsparadiese, millionenfach besucht im Sommer. Doch hier, mitten im Nationalpark und UNESCO Welterbe, herrscht seit Ewigkeiten die Natur und nicht der Mensch. Das spürt man auf jeder Seite in traumhaft schönen Panoramabildern.
„Meisterhaft: Expeditionen in surreale Dünenlandschaften“ weiterlesenTief eintauchen: Die unendlichen Farben der Nordseeinseln
Der Horizont ist kaum noch auszumachen in diesem Panoramabild aus türkisfarbenem Blau. Alles verschwimmt im Hintergrund und gibt dem Orange des Leuchtfeuers, das sich im Wasser spiegelt, seinen großen Auftritt. Kräftige Farben, die die Nordsee an diesem Tag, in diesem speziellen Moment, gemalt hat. Festgehalten 2009 auf Norderney von Deff Westerkamp, der seit vielen Jahren die Meereslandschaften seiner Heimat mit der Panoramakamera portraitiert.
„Tief eintauchen: Die unendlichen Farben der Nordseeinseln“ weiterlesenDie Nordsee: Eine Landschaft wie gemacht für …
… die Panoramafotografie. Den Blick meist nach Westen gerichtet. Vom Atlantik kommt unser Wetter, die ziehenden Wolken, wie Komparsen auf der Bühne. Wind, Wellen, Wolken und Sonne sind meine täglichen Begleiter. Sie sind die Darsteller im Theater Nordsee, das gut ausgeleuchtet ein faszinierendes Schauspiel bietet.
„Die Nordsee: Eine Landschaft wie gemacht für …“ weiterlesenRevival für Willrath Dreesen, Direktor und Dichter zugleich
Der junge Mann aus Norden konnte nicht nur gut schreiben und dichten, sondern hatte auch ausgesprochene Managerqualitäten. Die setzte er auch immer wieder für die Literatur ein: in jungen Jahren als Verlagsdirektor bei Reclam in Leipzig, später dann als Leiter für Schrifttum bei der Ostfriesischen Landschaft und kurz vor seinem Tod als Organisator der ersten ostfriesischen Dichtertagung 1950 auf Langeoog. Dort lenkte er von 1924 bis 1928 als Bürgermeister und später als Kurdirektor erfolgreich auch die Geschicke der Insel.
Doch im Grunde seines Herzens war er immer ein Schriftsteller. Lyrik, Prosa und Dramen prägten ihn in jungen Jahren und dann wieder ganz spät im Alter, als er nach einem bewegten Leben, das von zwei Weltkriegen gezeichnet war, mit 70 Jahren als Pensionär nach Langeoog zurückkehrte und für kurze Zeit nochmals Kurdirektor der Insel wurde.
Man könnte viel über den Politiker Dreesen schreiben, der in den Zwanziger Jahren an der Spitze der Verwaltung wegweisende Entscheidungen für die Insel traf: Die Gemeinde übernahm damals selbst das Tourismusgeschäft und wurde ebenfalls zum Betreiber der Schifffahrt. Aber im Mittelpunkt dieses Beitrags soll der die Literatur liebende und schreibende Willrath Dreesen stehen.
Die Wiederentdeckung in den Medien
Denn nach vielen Jahren der Stille um Ostfrieslands vergessenen Dichter, erlebte er in 2022 ein regelrechtes Revival. In kurzer Abfolge erschienen gleich drei längere Artikel über ihn: In der Beilage zur Ostfriesen Zeitung stellte Paul Weßels im April in seiner Rubrik „Buch des Monats“ Willrath Dreesen und ausgewählte Werke aus seiner Feder vor. Ein weiterer, sehr lesenswerter Beitrag über Willrath Dreesens unterschiedliche Lebensstationen inklusive der Abbildung vieler Buchtitel wurde von ihm, dem Bibliotheksleiter der Ostfriesischen Landschaft, im Juni des Jahres im „Blog für ost-friesische Geschichte“ veröffentlicht. Es ist die bisher umfangreichste Würdigung Dreesens.
Im Langeooger Inselmagazin „de Utkieker“ war kurz vorher, im Mai, bereits eine ausführliche Darstellung vom Wirken dieses facettenreichen Mannes zu lesen, mit seltenen Bildern aus dem Privatarchiv der Familie. Darunter auch eine Aufnahme vom Bau seines kleinen Hauses in den Dünen 1926, in das sich der resolute Kurdirektor so gerne zum Schreiben zurückzog. Nun stellt auch Ostfriesland Reloaded zum Ende des Jahres diese bemerkenswerte Figur der ostfriesischen Literatur nochmals vor. 2022: Das war definitiv das Jahr der Wiederentdeckung Willrath Dreesens.
„Am Strand erklingt ein eigen kalter Ton“, wenn es Herbst wird an der rauhen Nordsee. Es sind zeitlose Eingangszeilen, die mit wenigen Worten die Stimmung der letzten Tage eines Jahres einfangen – oder eines Lebens. Denn dieses Gedicht von Willrath Dreesen ist durchaus auch persönlich zu verstehen: melancholische Gedanken eines alternden Dichters.
NUN MAG ES HERBSTEN
Am Strand erklingt ein eigen kalter Ton,
Um unsre Knie zieht der Nebel schon. –
So wirds der letzte schöne Tag wohl sein,
Daß hüllenlos wir stehn im Abendschein.
Von deinen Schultern glänzt ein sanftes Rot,
Das schöner noch aus deinen Augen loht –
Nachglanz des Sommers, der hinuntersank,
Und schmerzvoll – süß ein stummes „Habe Dank!“
Der Wind wird kalt und bläst die Wellen kraus.
Du schmiegst dich an mich, deutest still nach Haus.
Nun mag es herbsten, bald auch mag es schnein –
Wir gehn in einen langen Sommer ein.
Von Willrath Dreesen,
aus „Der Eisvogel und andere Gedichte“ (posthum 1953).
… und bald ist Weihnachten: 111 x Lesezeit mit Orten in Ostfriesland!
Der Kölner Emons Verlag ist bekannt für seine originellen Reiseführer der 111-Orte-Reihe. Im Sommer 2022 ist mit „111 Orte in der Krummhörn, die man gesehen haben muss“ der jüngste Band zu ostfriesischen Orten und ihren Geschichten erschienen. Der kleinste und der größte Leuchtturm an der deutschen Nordsee stehen beide in der Krummhörn. Wie der berühmte „Otto-Leuchtturm“, ursprünglich ganz rot gestrichen, zu seinen drei gelben Streifen kam und damit zu seinem markanten rot-gelben Ringellook, an dem das Wahrzeichen Ostfrieslands schlechthin sofort zu erkennen ist, davon erzählt das Buch. Wie auch von dem „kleinen Bruder des Eiffelturms“, der seine Rekordhöhe als Leuchtfeuer einer zu seiner Bauzeit absolut modernen Stahlfachwerkskonstruktion zu verdanken hat.
„… und bald ist Weihnachten: 111 x Lesezeit mit Orten in Ostfriesland!“ weiterlesenZeltlager anno 1936: Der Jugendkult der Nazis


Wenn man von Weitem auf die Szenerie blickt, unterscheidet sie sich abgesehen vom Schwarz-Weiß der Aufnahmen, gar nicht mal so sehr von einem Zeltlager heutiger Tage. In einem weiten Dünental verteilen sich viele weiße Rundzelte im Kreis. In der Mitte befindet sich ein großer Freiplatz mit einer gehissten Fahne: ein typisches Zeltlager. Es unterscheidet sich äußerlich nicht wesentlich von dem, das etwa der Sportbund Niedersachsen aktuell jedes Jahr im Sommer am Fuß der Melkhorndüne für Jugendliche auf Langeoog organisiert. Nur das dieses ein ganz spezielles ist: Es ist das Zeltlager der Hitlerjugend, das die Nationalsozialisten 1936 im Pirolatal der Insel, direkt am Meer, aufgeschlagen hatten. Hier sollte der Nachwuchs geformt werden, ganz im Sinne der Partei-Ideologie.
„Zeltlager anno 1936: Der Jugendkult der Nazis“ weiterlesen













